Lebensdauer

Geschichten sind wie Fäden, die durch unser Leben ziehen. Sie prägen unsere Sicht auf die Welt, begleiten uns durch unsere Kindheit und setzen uns neuen Ideen aus.

Was waren deine ersten Geschichten? Waren es Kinderbücher in der Stimme deiner Eltern, klebrige Finger auf den Seiten und Apfelsaftflecken neben den Buchstaben? Waren es Hörbücher auf Kassetten, die leise auf deinem Nachttisch ratterten, umgedreht nach der Hälfte, um den Rest der Geschichte zu hören? Wenn du dir jemals Bilderbücher angeschaut hast, hast du sicher auch eines – mindestens – dass dir Albträume bereitete. Ein Mädchen in Flammen, um dir beizubringen, nicht mit Streichhölzern zu spielen. Abgeschnittene Daumen, um einen Jungen davon abzuhalten, an ihnen zu lutschen. Aschenputtels hässliche Stiefschwestern, die sich Zehen und Fersen abschneiden, damit sie in ihren Glasschuh passen.

Oder vielleicht sind das nur die deutschen Bilderbücher.



Vielleicht ging es irgendwann nach vorne. Du bist zu groß für die Bilderbücher geworden. Du hast deiner Mutter zugeschaut, wie sie einen Roman zu groß für deine Hände las, also bist du auf ihren Schoß geklettert, um so zu tun, als ob du mitlesen würdest. Hat es so angefangen? Hast du dich deswegen ins Lesen verliebt? So war es für mich. Was war deine Türschwelle?

Falls du ein Bücherregal zu Hause hast, oder zwei, oder noch viel mehr, dann weißt du, wovon ich rede. Findest du die Vorstellung nicht seltsam? Dutzende, vielleicht Hunderte von Leben, die an deiner Seite weilen, festgehalten auf Papier und zwischen Buchdeckeln.

Wie häufig läufst du in einen Buchladen, und verlässt ihn mit noch mehr von ihnen balanciert in deinen Armen? Ich habe schon immer mehr Bücher gekauft, als ich je lesen könnte. Wie viele ungelesene Geschichten hortest du? Wie viele Leben in deinem Haus sind unerzählt? Wie viele Charaktere warten noch darauf, dass du ihren Einband aufschlägst, dich zwischen ihren Seiten verlierst, und in ihre Welten eintauchst?

Und ist es nicht traumhaft, wenn du darüber nachdenkst, dass diese eine Sache in der gesamten Menschheitsgeschichte schon immer dieselbe war? Wir lesen Geschichten von Menschen, die vor hunderten, vielleicht vor tausend Jahren geschrieben wurden – übersetzt oder modernisiert, in neuen Ausgaben, für ein modernes Publikum aufbereitet, illustriert – und doch ist die Geschichte noch immer dieselbe. Gefühle, Ideen, Gedanken aus vielen Generationen zuvor, verpackt in moderne Worte. Don Quixote verirrt sich in Tagträumen, und Gilgamesh verliert vor Kummer seinen Verstand. Shakespeare fasst seine Sehnsucht in Worte, Achilles wütet gegen sein Schicksal, und die Menschen in Canterbury erzählen sich gegenseitig Geschichten, um das Leben leichter ertragen zu können.

Und irgendwo zwischen den Seiten wird uns klar: „Oh. Ich verstehe. Das hätte ich sein können.“



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